Es stand Spitz auf Knopf

Der steinige Weg zum richtigen Geschäftsmodell

Der Weg zum heutigen Geschäftsmodell von retraced verlief alles andere als geradlinig. Zunächst hat das Gründertrio um Lukas Pünder und Philipp Mayer die Schuhmarke CANO gegründet, ohne irgendwelche Erfahrungen aus der Branche mitzubringen. Später stieß auch noch Peter Merkert hinzu. „Wir sind zusammen zur Schule gegangen und kennen uns seit über 20 Jahren“, erzählt Pünder augenzwinkernd. Doch schnell stellten sie fest, dass die Lieferketten ein zentrales Problem darstellen und dass es vielleicht sinnvoller ist, sich auf diese Thematik zu konzentrieren.

Die neue Geschäftsidee lautete, für die Endverbraucher die Nachhaltigkeit der Lieferketten zu prüfen und transparent darzustellen. Hierzu sollten die einschlägigen Daten ausgewertet und verifiziert werden. Jeder Käufer sollte wissen, wo die Produkte tatsächlich herkommen und ob sie den Vorstellungen von Nachhaltigkeit entsprechen.

Als sie das Produkt 2020 an den Markt brachten, mussten sie feststellen, dass nicht genügend Daten für die gewünschte Analyse zur Verfügung standen. Es mussten also erst einmal die Daten gesammelt werden, wozu das Gründertrio retraced zu einer Art Linkedin für die Textil- und Modeindustrie ausbaute. Damit gelang retraced ein Pivot wie aus dem Lehrbuch.

NRW.BANK half beim Start und während der Corona-Krise

Bei der Finanzierung nutzte retraced gleich mehrere Instrumente. So hat das Gründerteam 2019 eine Seed-Finanzierung von Business Angels erhalten. Mit von der Partie war die NRW.BANK mit ihrem Förderprogramm „NRW.SeedCap“. Für jeden Euro, den ein Business Angel in ein Start-up investiert, legt die NRW.BANK einen Euro drauf, womit eine Anschubfinanzierung zu Stande kommt.

Doch mit dem Beginn der Corona-Pandemie stand retraced vor einer existenzbedrohenden Krise. Erst brachen die Erträge ein, dann machten die Lieferanten nicht mehr mit. Es stand Spitz auf Knopf. In dieser Situation half die NRW.BANK mit einem speziell auf Corona-Schnellhilfe zugeschnittenen Förderprogramm, wodurch retraced 100.000 Euro über ein Wandeldarlehen zuflossen. „Das war wahrscheinlich unser Lebensretter“, erinnert sich Pünder. Ende 2021 folgten weitere 300.000 Euro, erneut als Wandeldarlehen. Diese Summe steckte retraced unter anderem in Produktentwicklung und Wachstum. Grundsätzlich hat die NRW.BANK nun die Option, beide Darlehen in Beteiligungen umzuwandeln.

Schließlich führte retraced Ende Oktober 2022 eine Series A-Runde über 6,5 Mio. Euro durch. 4 Mio. kamen von ALSTIN Capital, das zur Maschmeyer-Group gehört, und 2,5 Mio. Euro von dem auf Logistik spezialisierten Venture Capital-Fonds F-LOG sowie dem Altinvestor Samaipata.

Wie das Geschäftsmodell funktioniert

„Wir bezeichnen uns selbst als eine Nachhaltigkeitsmanagement-Lösung für die Mode- und Textilindustrie“, erläutert Pünder. „Wir helfen Modeunternehmen in drei Bereichen: effizientes Datensammeln, die Auswertung der Daten und ihre Weitergabe an alle relevanten Stakeholder.“

Die Aufgabe von retraced bestehe darin, die Prozesse zu standardisieren und zu automatisieren, damit eine manuelle Datenerhebung über Excel entfällt. Bislang hätten Textil- und Modeunternehmen viel Zeit mit dem Datensammeln vergeudet. „Wir sind eigentlich das Operative System, die IT-Lösung, die der Textilindustrie bei der effizienten Abwicklung hilft“, sagt Pünder.

So baute das Gründertrio retraced zu einer Art Linkedin für die Textilindustrie um. Die Zulieferer und Marken legen ähnlich wie bei dem Social-Media-Netzwerk zunächst ein Profil bei retraced an, pflegen ihre Daten ein und aktualisieren sie laufend. Sobald sich ein Nutzer mit einem dieser Profile verbindet, kann er diese Daten einsehen. Anschließend konsolidiert retraced die Daten der einzelnen Profile und wertet sie aus.

Der Clou dabei: Sobald ein Zulieferer ein Profil angelegt hat, können mit diesen Daten auch die Lieferketten anderer Textilmarken geprüft werden, die mit diesem Zulieferer zusammenarbeiten. Ein Profil reicht dafür aus.

„Wenn ein Lieferant mit 20 Modemarken zusammenarbeitet und der Lieferant ein Update an seinem Profil durchführt, dann bekommen das auch die 20 Modemarken mit. Und umgekehrt: Wenn eine Modemarke eine neue Anforderung an einen Lieferanten stellt, dann profitieren auch die anderen Modemarken davon. Unsere Lösung hat einen guten Netzwerkeffekt, und je mehr Unternehmen sich anschließen, desto höher ist dieser Effekt“, freut sich Pünder.

Wie retraced Geld verdienen will

Die Herausforderung besteht darin, nicht die Modemarken, sondern die Lieferanten zur Teilnahme zu motivieren. „Daher haben wir die Plattform auch weniger für die Modemarken, sondern für die Lieferanten gebaut. Wir haben uns überlegt: Was können wir dem Lieferanten anbieten, was ihm die Arbeit erleichtert“, sagt Pünder. Zwischenzeitlich haben auch die Lieferanten erkannt, wie wichtig das Thema Nachhaltigkeit für sie ist.

Solange ein Nutzer nur Daten einträgt, ist das Profil kostenlos. Sobald ein Teilnehmer jedoch die Daten auszuwerten beginnt, wird er zu einem zahlungspflichtigen Kunden. Ähnlich wie bei Linkedin dient der kostenlose Einstiegsaccount dazu, eine rasche Verbreitung der Plattform zu ermöglichen.

Geschäftsmodell profitiert von Nachhaltigkeitstrend und neuen Gesetzen

Retraced profitiert dabei von neuen gesetzlichen Anforderungen. So wird das deutsche „Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz“ am 1. Januar 2023 in Kraft treten; sein französisches Pendant gilt bereits. Demnach müssen Mode- und Textilmarken nachweisen, ob ihre Zulieferer nachhaltige Produktionsstandards implementieren und zum Beispiel auf Kinderarbeit verzichten. Auch in den USA spielt das Thema eine Rolle. Beispielsweise verlangt der „Uygur Forced Labor Protection Act“, dass Textilien keine Baumwolle aus der chinesischen Provinz Xinjiang enthalten.

„Das Thema Nachhaltigkeit wird aus zwei Richtungen stark gepusht. Die eine sind die Verbraucher. Sie legen immer mehr Wert darauf – zumindest in der Theorie. Die andere ist der Staat und die Gesetzgebung“, sagt Pünder.

Das Thema Nachhaltigkeit der Lieferketten stand zwar schon zuvor auf der Agenda der Modemarken. Doch aufgrund der Gesetze ist das Thema jetzt akut. „Durch die Gesetzgebung hat sich der Fokus verschoben. Früher hieß es: ‚Ich möchte das machen‘, heute: ‚Ich muss das machen.‘ Das hat für uns alles geändert.“

Wo retraced mit der 6,5 Mio.-Euro-Finanzierung hinwill

Einen Großteil der Series-A-Finanzierung über 6,5 Mio. Euro wollen Pünder, Mayer und Merkert in die Produktentwicklung stecken. Bisher floss mehr als die Hälfte des Budgets in die Entwicklung der sehr komplexen IT-Plattform. Von den mittlerweile 45 Mitarbeitern sind weit mehr als die Hälfte Entwickler oder Produktexperten. Mit dem frischen Kapital soll jetzt ein Team im asiatisch-pazifischen Raum entstehen, wo die meisten Zulieferer herkommen. Überdies soll weiteres Wachstum angestoßen werden. Bis Ende nächsten Jahres will retraced die Zahl der Unternehmensprofile von aktuell etwa 6.500 auf 30.000 steigern.

 „Wir wachsen recht stark –, in diesem Jahr um 300 bis 400 Prozent. Und bei den Logins in die Plattform um den Faktor zehn“, berichtet Pünder.